
Text Von Jürg Meier, Bilder von Henry Schulz
Jazz braucht Frauen
Der Anteil an Jazzerinnen ist noch immer gering. Am Festival da Jazz werden Konzerte von Frauen gefördert. Doch das reicht längst nicht aus, um das Ungleichgewicht zu beseitigen.
Wenn die Hammondorganistin Rhoda Scott am 13. Juli mit ihrem Lady Quartet in St. Moritz auftritt, hat das auch mit Frauenförderung zu tun. Das Konzert erhält Unterstützung von der wohltätigen Stiftung der Investorin Carolina MüllerMöhl. Sie engagiert sich seit sechs Jahren für Konzerte von Frauen am Festival da Jazz. «Frauen sind auf den Jazzbühnen noch immer praktisch unsichtbar», sagt MüllerMöhl, die auch Verwaltungsrätin der NZZ-Gruppe ist. Eine Ausnahme stellten einzig Sängerinnen dar. MüllerMöhl ist seit ihrer Jugend ein grosser Jazzfan. Ihr Ziel ist es, mehr Frauen auf die Bühne zu bringen. Der Grund: «Wenn man will, dass sich mehr Frauen auf Bühnen zeigen, brauchen sie weibliche Vorbilder auf den Bühnen.» Nichts bestätigt diese Aussage schöner als die Karriere der Jazzsaxofonistin Nicole Johänntgen. Sie hatte mit 13 Jahren den Wunsch, Saxofon zu spielen. Der Grund: ein Auftritt der niederländischen Saxofonistin Candy Dulfer am Fernsehen. «Die Musikerin, ihre Musik und ihr Saxofon haben mich inspiriert», sagt Johänntgen heute. «Ich kannte sonst gar keine Frauen im Jazz.»
Klang der Freiheit
Die eklatante Untervertretung der Frauen ist erstaunlich, denn Gleichheit war immer ein Thema im Jazz. Die Musik wurde auch als «sound of freedom» (Klang der Freiheit) bezeichnet. Jazzmusiker sahen sich als Kämpfer gegen Vorurteile. Nur die Emanzipation der Frauen war kaum je von Bedeutung. Die Auswirkungen sieht man bis heute. Klammert man die Sängerinnen aus, dann studieren an den Schweizer Jazzschulen zwischen fünf und sieben Prozent Frauen, sagt Valerie Portmann. Sie leitete von 2006 bis 2018 den Bereich Jazz an der Hochschule der Künste Bern. In Deutschland ist die Situation ähnlich. Dort lancierten Musikerinnen und Musiker 2018 eine Erklärung zur Gleichstellung der Frauen im Jazz. Gemäss dem Dokument sind zwar 20 Prozent der aktiven Musizierenden Jazzerinnen. Doch auch in Deutschland ist ein grosser Anteil Sängerinnen. Rechnet man sie heraus, sinkt der Frauenanteil auf nur noch 12 Prozent. Noch extremer sind die Zahlen bei den Lehrkräften. In der Schweiz gibt es laut Portmann keine einzige weibliche Instrumentaldozentin. In Deutschland seit 2018 eine einzige.
«Wenn man will, dass sich mehr Frauen auf Bühnen zeigen, brauchen sie weibliche Vorbilder auf den Bühnen.»
Doch warum sind Frauen im Jazz noch immer so selten? Laut Carolina MüllerMöhl gibt es dafür viele Ursachen – so wie überall sonst, wo Frauen weiterhin in der Minderzahl sind. Eine davon sind unbewusste Vorurteile. «Aus Untersuchungen wissen wir: Wenn Lebensläufe keine Rückschlüsse auf das Geschlecht der Bewerber zulassen, werden zahlenmässig mehr Frauen eingestellt und später auch befördert.»
Im Jazz kommen noch andere Faktoren hinzu, etwa die stark männlich geprägte Welt des klassischen Jazz. Dort ging es auch darum, den vorherigen Solisten an die Wand zu spielen. Die während längerer Zeit dominierenden Stilrichtungen Bebop und Hardbop waren «sportlich und kompetitiv» angelegt, sagt Portmann. Stilbildend wirkten fast nur Männer.

In den sechziger Jahren brach der Free Jazz diese Ästhetik zwar auf. Doch auch diese eigentlich hochpolitische Stilrichtung blieb männerdominiert. Die britische Publizistin Val Wilmer schreibt, Frauen seien von männlichen FreeJazzMusikern geradezu davon abgebracht worden, Instrumente zu spielen.
Am grundsätzlichen Willen der Frauen scheint es nicht zu liegen. Laut der Deutschen Jazzunion nehmen an Musikschulen mehr Mädchen Unterricht als Jungen. Doch dann finden «weniger Mädchen und Frauen ihren Weg in die ersten Bands und Ensembles».
Laut Carolina MüllerMöhl reicht die Förderung von Konzerten natürlich nicht aus, um die Stellung der Frauen im Jazz zu verbessern. Einfache Lösungen gibt es aber nicht. Valerie Portmann suchte während ihrer Zeit als Jazzschulleiterin explizit Frauen für Lehrposten. Oft erhielt sie keine einzige Bewerbung. Das ist auch der Grund, warum aus ihrer Sicht Quoten «leider nicht machbar sind».
Am Schluss führt aber gemäss allen Befragten kein Weg daran vorbei: Es braucht mehr Frauen auf der Bühne, mehr Dozentinnen, mehr Intendantinnen. Doch wie kann mehr Gleichstellung erreicht werden? So wie Frauen in anderen Berufen auch seien Jazzerinnen etwa auf bessere Strukturen angewiesen, sagt MüllerMöhl. Zum Beispiel auf bezahlbare Kinderkrippen und Tagesschulen.

Druck und Selbstinitiative
Die Konzepte entwerfe erst einmal ich, ja. Dabei orientiere ich mich mal an Räumen, mal an Themen oder Personen. Für eine Kirche in München habe ich zum Beispiel ein hybrides Kopfhörerkonzert entwickelt. Die Jazzrausch Bigband war auf den Emporen rund um das Publikum platziert, dieses hörte über drahtlose halboffene Kopfhörer die Bässe und die Perkussion, während die anderen Instrumente und die Orgel von aussen hinzukamen. Oder ein anderes Beispiel: Für die erwähnte Kesselhalle im Bergson Kunstkraftwerk habe ich «Bergson’s Rise» konzipiert, ein Konzert, bei dem das Publikum sich ganz viel in dem Riesenraum bewegt. Komponiert und arrangiert wird die Musik dann von Leonhard Kuhn, das Beschallungskonzept und Sounddesign wird erstellt von Josy Friebel, und das Licht- und Stagedesign kommt von Philip Foidl.
“Die eklatante Untervertretung der Frauen ist erstaunlich, denn Gleichheit war immer ein Thema im Jazz.”
Mehr Gleichstellung im Jazz ist nicht nur für die Frauen wichtig. Sondern mindestens so sehr für den Jazz. Frauen bringen laut Valerie Portmann andere Qualitäten in die Musik ein. «Ich habe Frauen vielfach als sehr offen erlebt. Sie sind neugierig und setzen sich Experimenten aus.» Das tut der Musik gut, die immer wieder Gefahr läuft, museal zu werden.
Es gibt aber noch einen anderen Grund für mehr Geschlechtergleichheit: damit dem Jazz nicht das Publikum abhandenkommt. Saxofonistin Nicole Johänntgen erzählt von einer Kollegin, die kürzlich ein Jazzkonzert besuchte. «Sie sah nur Männer auf der Bühne. Darauf ging sie direkt wieder nach Hause.»